Jahrgangsübergreifender Unterricht an kleinen Grundschulen im ländlichen RaumEin Konzept und Materialien zum Umgang mit Heterogenität

1 Fachdidaktische Einblicke

Vor allem im Anfangsunterricht kommt es darauf an, die durch unterschiedliche Alltagserfahrungen gewonnenen mathematischen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler zu nutzen und weiterzuentwickeln. Dazu müssen die Lehrkräfte Bedingungen schaffen, unter denen Schülerinnen und Schüler an ihr vorhandenes Wissen anknüpfen können und dadurch zu aktiven Lernerinnen und Lernern werden. Das Bearbeiten realitätsnaher Themen und Aufgaben nimmt daher im Fach Mathematik einen vorrangigen Platz ein.

Selbstgesteuertes Lernen in heterogenen Klassengemeinschaften kann dann erfolgen, wenn Schülerinnen und Schüler mit Aufgaben konfrontiert werden, zu deren Lösung sie ihr Vorwissen, ihre Erfahrungen und eigene Problemlösestrategien einbringen können. Gekoppelt mit herausfordernden Denkprozessen entstehen in der Folge kreative Eigenkonstruktionen. Nicht zu unterschätzen ist gleichsam die Entwicklung des mündlichen und schriftlichen Ausdrucksvermögens, das selbstständige Arbeiten und die Fähigkeit, mathematische Arbeitsergebnisse auch bildnerisch oder zeichnerisch darzustellen.

Ein auf Kompetenzerwerb ausgerichteter Mathematikunterricht mit dem Anspruch, inhaltsbezogene mathematische Kompetenzen1 mit den prozessbezogenen mathematischen Kompetenzen2 eng zu verknüpfen, führt zu einer kontinuierlichen Verbesserung der Qualität im Unterricht und auch vorrangig zur Freude und Begeisterung für das Fach Mathematik. Ein schematisches Vorgehen und die durchgängige Nutzung eines Lehrbuches erweisen sich dabei nicht immer förderlich.

Der Unterricht im Fach Mathematik ist davon gekennzeichnet, dass Schülerinnen und Schüler eigene Ideen und Vorgehensweisen formulieren, sich argumentativ austauschen sowie systematisch reflektieren. Die Arbeit mit einer Lernpartnerin oder einem Lernpartner oder in einer Gruppe ermöglicht eine hohe geistige und verbale Aktivität aller. Der Altersunterschied und das Aufeinandertreffen mathematischer Vorerfahrungen kann im jahrgangsübergreifenden Unterricht für einen ergänzenden Wissensaustausch genutzt werden. Das gemeinsame Lernen wird damit interessanter und lebendiger.

Das Zurückgreifen auf inhaltsbezogene und prozessbezogene mathematische Kompetenzen fortgeschrittener Lernerinnen und Lerner trägt in jahrgangsgemischten Klassengemeinschaften zum schnelleren Erlangen von Routinen und zum Anwenden heuristischer Strategien bei. Gleichzeitig entwickeln alle Schülerinnen und Schüler ihr Ausdrucksvermögen und werden in die Lage versetzt, mathematische Inhalte fachsprachlich auszudrücken.

Jüngere Schülerinnen und Schüler orientieren sich auch fachlich an den älteren. Sie schauen schon im mathematischen Raum voraus und lernen durch Mitmachen, Nach- und Selbermachen. Dabei kann auch Bekanntes übersprungen werden. Gewinnbringend ist manchmal ein Schritt zurück, wenn Schülerinnen oder Schüler mit pädagogischem oder sonderpädagogischem Förderbedarf Zeit für Wiederholungen benötigen, ohne ihre Klassengemeinschaft verlassen zu müssen.

Der Aufbau der sächsischen Lehrpläne bildet hinsichtlich seiner pädagogischen Einheit in den Klassenstufen 1 und 2 eine gute Grundlage für die Planung des Unterrichts und erleichtert damit lernzieldifferenziertes Arbeiten an gemeinsamen Themen in unterschiedlicher Tiefe. In den Klassenstufen 3 und 4 weisen die speziellen fachlichen Ziele und die damit korrespondierenden Lernbereiche eine Progression auf. Dadurch wird es möglich, Kompetenzen in unterschiedlichem Ausprägungsgrad zu erwerben.3

Im jahrgangsübergreifenden Unterricht im Fach Mathematik der Klassenstufen 1/2 geht es dabei nicht vorrangig um das Erreichen eines gemeinsamen Zieles. Bedeutsamer ist, dass sich die Schülerinnen und Schüler entsprechend ihres aktuellen Lern- und Leistungsstandes auf unterschiedlichen Lernzielebenen, bezogen auf den gleichen Lerninhalt, bewegen.

Abb.: Nicht alle Schülerinnen und Schüler arbeiten gleichzeitig auf derselben Lernzielebene (Grajek, 2019)

Während des Durchlaufens des „lebendigen Spiralprinzips“ einer jahrgangsübergreifenden Klassenstufe 1/2 wird jede Stoffeinheit von jedem Lernenden zweimal durchlaufen. Im ersten Lernjahr befinden sich Schülerinnen und Schüler beispielsweise auf dem Niveau der Lernzielebene: „Einblick gewinnen in Kugel, Würfel, Quader“ bezüglich des Wissenserwerbes im Lernbereich Geometrie. Beim zweiten Durchlaufen der Stoffeinheit nach einem Jahr wurden von ihnen bereits so viele weitere Erfahrungen gesammelt, dass nun ein Arbeiten auf der Lernzielebene: „Kennen von Kugel, Würfel, Quader“ möglich ist, wie es im Lehrplan für die Klassenstufen 1/2 vorgesehen ist.

Lernen im jahrgangsübergreifenden Unterricht findet innerhalb dieser Zielspanne bezogen auf einen gemeinsamen Inhalt statt. Die konkrete Lernzielebene wird ausschließlich von individuellen Vorkenntnissen, Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissen bedingt, nicht vom Alter. Die herausfordernde Aufgabe für die Lehrkräfte besteht darin, durch den Einsatz substanzieller Übungsformate4 mathematische Lernumgebungen zu gestalten. Durch diese Lernumgebungen können die Schülerinnen und Schüler auf ihrem Lern- und Entwicklungsstand ansetzen. Ein gemeinsames Arbeiten an gleichen Themen wird ermöglicht.

Grundlegendes mathematikdidaktisches Prinzip ist die Handlungsorientierung. Das Handeln mit Material unterstützt beim „Begreifen“ von Mathematik. Dabei wird auch der kommunikative und kooperative Austausch gefördert. Jederzeit können verschiedene Varianten der Zusammen- oder Einzelarbeit im gleichen oder unterschiedlichen Lernjahr entstehen.

Mathematische Lernumgebungen

Unter einer Lernumgebung werden die äußeren Bedingungen, also die Lernsituation als Ganzes zusammengefasst. Das Kernstück einer mathematischen Lernumgebung sind substanzielle Übungsformate5. Dabei wird allen Schülerinnen und Schülern das Erkennen von Zusammenhängen und Gesetzmäßigkeiten ermöglicht. Die Entwicklung von Kreativität und Ideenreichtum steht dabei ebenso im Mittelpunkt wie das entdeckende und forschende Lernen. Die mathematische Lernumgebung wird so gestaltet, dass sie eine Konzentration auf das Lernen erlaubt und wichtige Hilfen oder Herausforderungen jederzeit für alle Schülerinnen und Schüler erreichbar sind.

Merkmale

  • Berücksichtigung persönlicher Fähigkeiten, Interessen, Einstellungen und Ziele 
  • Erwecken von Aufmerksamkeit und Neugier 
  • Rückmeldungen über Lernentwicklungen 
  • Alltagsbezug 
  • Orientierung an realen Sachverhalten 
  • Kooperation und Kommunikation (Fachgespräche) 
  • Offenlegung von Lösungsvarianten 
  • Anknüpfen an Gelerntes 
  • Ermöglichen von Transferleistungen 
  • Konstruieren neuen Wissens 
  • Förderung von Kreativität 
  • Bedingungen für entdeckendes und forschendes Lernen

Substanzielle Übungsformate

Substanzielle Übungsformate6 sind ein wesentliches Merkmal und eine notwendige Bedingung zur Gestaltung mathematischer Lernumgebungen. Sie ermöglichen im Idealfall eine „natürliche Differenzierung“, bei der alle Lernenden auf ihrem individuellen Niveau ansetzen und ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten von diesem Punkt aus weiterentwickeln. Zahlenmauern, Malpyramiden, Rechenhäuser, Zahlenketten, Rechenquadrate und Entdeckerpäckchen sind Highlights und Dauerbrenner dieses Übungsformates.

Allerdings steckt nur dann in diesen o. g. Übungsformaten Potenzial zur Entwicklung und Festigung inhaltsbezogener und prozessbezogener mathematischer Kompetenzen, wenn diese mit Aufgabenstellungen gekoppelt sind, die Schülerinnen und Schüler zu sinnvollem und wirklich produktivem Üben herausfordern. Die Entwicklung von Kreativität und Ideenreichtum muss dabei ebenso im Mittelpunkt stehen wie das entdeckende und forschende Mathematiklernen.

Aufgabenstellungen substanzieller Übungsformate fordern sowohl das Begründen von Vorgehensweisen als auch das Zulassen unterschiedlicher Wege und Lösungen heraus. Damit diese mathematischen Aufgaben im Unterricht und im Rahmen der Leistungsermittlung bewältigt werden können, werden die Schülerinnen und Schüler unter der Berücksichtigung von Alter und Vorwissen an den Umgang mit allgemeinen und fachlich spezifischen Operatoren7 und deren Bedeutung herangeführt.

Substanzielle Übungsformate stellen durch ihre Offenheit hohe kognitive Anforderungen. Die Bearbeitung benötigt Zeit zum Nachdenken, zum Diskutieren von Lösungswegen, zum Aufschreiben oder Darstellen von Lösungen oder Lösungswegen durch Schülerinnen und Schüler.

Die Lehrkraft unterstützt die Eigentätigkeit sowohl individuell als auch fachlich im angemessenen, teilweise sehr zurückhaltenden Maß, denn Kinder entdecken selbst Zusammenhänge und formulieren sie.

Beispiele für Aufgabenstellungen zu substanziellen Übungsformaten 

Praxisbeispiele

Der Weg zur Bearbeitung offener Aufgaben sollte schon in der Schuleingangsphase schrittweise angebahnt werden. Es bietet sich an, die Bearbeitung halboffener und offener Aufgaben auf einem leeren Blatt zu beginnen. Schülerinnen und Schüler entscheiden selbst, wie sie es gestalten. Es fordert die kindliche Kreativität und Fantasie heraus und gibt Auskunft über individuelle und originelle Lösungen mathematischer Probleme. Schülerinnen und Schüler werden durch Vorgaben nicht unter Druck gesetzt. Lehrkräfte erhalten Informationen, wie das Kind mit der Blattaufteilung zurechtkommt, wie es sich auf einem Blatt Papier orientieren und es strukturieren kann. 

Abb.: Dein Rechenbild, Kl. 1 (Grajek, 2020)
Abb.: Meine Rechenmauern und Rechentürme, Kl. 2 (Grajek, 2020)
Abb.: Mein Bild aus lauter Linien, Kl. 2 (Grajek, 2020)
Abb.: Das kann ich schon, Kl. 1 (Grajek, 2020)

Verknüpfung aus Anforderungsbereichen und Aufgabenformaten

Um allen Schülerinnen und Schülern zu ermöglichen, in verschiedenen Anforderungsbereichen zu agieren und gleichzeitig den Blick auf „die Mathematik hinter die Zahlen“ zu werfen, bietet es sich an, die Anforderungsbereiche I, II und III der Bildungsstandards mit den Aufgabenformaten geschlossen, halboffen und offen zu kombinieren.8

Mit zunehmender Offenheit der Aufgabenformate in der Verknüpfung mit den Anforderungsbereichen I, II, III wird das Potenzial von substanziellen Übungsformaten erhöht. Als Planungsinstrument für die Lehrkräfte zeigt die folgende exemplarische Übersicht das natürliche Differenzierungspotential dieser Übungsformate, welches sich aus der Kombination aus Anforderungsbereichen und Aufgabenformaten ergibt.

Abb.: Rechenpäckchen in Mathematik (nach Arndt/Grajek, 2019)
Teil III, Grundlagen, Mathematik: Anforderungsbereiche u. Aufgabenformate, Rechenpäckchen

Durch das Hinzuziehen der drei Aufgabenformate erhalten alle Schülerinnen und Schüler – unabhängig von ihrem mathematischen Leistungsvermögen – die Chance, neben dem Ausführen von Routinetätigkeiten (AB I) auch Zusammenhänge herzustellen (AB II) und zu verallgemeinern und zu reflektieren (AB III). So können inhaltsbezogene und prozessbezogene Kompetenzen erfolgreich und nachhaltig auf- und abgebaut werden. Das wird deutlich, wenn man einige exemplarische Aufgabenformulierungen aus dem Anforderungsbereich III näher betrachtet:

Abb.: Rechenpäcken Anforderungsbereich III (Grajek, 2019)
Abb.: Zahlenmauern Anforderungsbereich III (Grajek, 2019)
1Vgl. Walther, Gerd; van den Heuvel-Panhuizen, Marja; Granzer, Dietlinde; Köller, Olaf (Hrsg.). Bildungsstandards für die Grundschule. Cornelsen Verlag Scriptor GmbH & Co. KG. Berlin. 2007. S. 19.
2Ebd.
3Teil III, Materialien Mathematikunterricht, Parallelisierung der Fachinhalte in der Klassenstufe 3/4
4Teil I, Kap. 2.4 Struktur einer Unterrichtseinheit, substanzielle Übungsformate
5Teil I, Kap. 2.4 Struktur einer Unterrichtseinheit, substanzielle Übungsformate
6Teil I, Kap. 2.4 Struktur einer Unterrichtseinheit, substanzielle Übungsformate
7Teil I, Kap. 3.3 Aufgabenformate, Anforderungsbereiche, Operatoren, Teilüberschrift: Operatoren als Teil der Bildungssprache
8Teil I, Kap. 3.3 Aufgabenformate, Anforderungsbereiche, Operatoren