Jahrgangsübergreifender Unterricht an kleinen Grundschulen im ländlichen RaumEin Konzept und Materialien zum Umgang mit Heterogenität

1.3 Rechtschreibung entwickeln – Schreiben von Anfang an

Aus der Sicht eines Kindes kommt dieses in die Schule, um Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen. Vom „Schreibenkönnen“ geht schon vor Schulbeginn eine große Faszination bei den meisten Schulanfängern aus. Die unmittelbare Erfahrungswelt der Kinder im Kindergarten- bzw. Vorschulalter bietet jede Menge Anregung dafür: Erlebnisse in bildgestützten Texten festhalten, zu Bildimpulsen Geschichten ausdenken oder eine begonnene Geschichte weitererzählen. Daraus ergeben sich Möglichkeiten, Kinder zum Schreiben zu motivieren und die Freude am Schreiben beizubehalten.

Das Verfassen eigener Texte spielt im Anfangsunterricht des Faches Deutsch von Beginn an eine bedeutende Rolle. Jedes Kind hat zu einer Geschichte, die zum Beispiel fortzusetzen ist, einen eigenen Zugang. Über vielfältige Lösungsstrategien kommen die Schülerinnen und Schüler zu Ergebnissen, die sich stark an ihren individuellen Lernvoraussetzungen orientieren. 

Eine Über- oder Unterforderung wird so weitgehend vermieden. Das Spektrum der Lösungen kann im Anfangsunterricht zum Beispiel von einem gemalten Bild, zu dem die Geschichte weitererzählt wird, bis zu einem Bild, welches mit einzelnen Wörtern „beschriftet“ wird, reichen. Im weiteren Verlauf können erste kleine Sätze entstehen. Das Leistungsspektrum geht sogar bis zum Schreiben eigener kleiner Geschichten.

Dabei kann von Schülerinnen bzw. Schülern, die noch keinen Zugang zur Schriftsprache gefunden haben, nicht erwartet werden, dass sie eine Geschichte schreiben. Ebenso wenig kann von einem kleinen „Geschichtenschreiber“ verlangt werden, dass er sich erst einmal nur an einem Buchstaben oder einem eng begrenzten Wortschatz aufhält. Die Lehrkraft hat die herausfordernde Aufgabe, Lernstände frühzeitig und fortwährend festzustellen, um individualisierte Lernangebote bereithalten zu können. Das erfordert neben der didaktischen insbesondere eine diagnostische Kompetenz der Lehrkraft. 

In Anhängigkeit vom Lernstand des Einzelnen und der Nutzung der Anlauttabelle können die Kinder oft sehr schnell erste Wörter verschriften. Natürlich gelingt das in der Regel noch nicht fehlerfrei und muss als wichtiger Entwicklungsschritt auf dem Weg zur normgerechten Schreibung angesehen werden. Ausgehend von den individuellen lautorientierten Verschriftungen von Anfang an werden die Schülerinnen und Schüler über den handlungsorientierten Umgang mit Lauten, Buchstaben und Wörtern systematisch an das orthografisch korrekte Schreiben herangeführt.

Dieser Prozess wurde in wissenschaftlichen Darstellungen zum Schriftspracherwerb in verschiedenen Stufenmodellen1 abgebildet. Bei Betrachtung solcher Stufenmodelle des Schriftspracherwerbs bzw. der Rechtschreibentwicklung im Kindesalter wird klar: Schreiben und Richtigschreiben unterliegen einem Entwicklungsprozess, der in spezifischen Phasen abläuft, welche wiederum sowohl von den schnell Lernenden als auch von den langsamer Lernenden alle durchlaufen werden. Dieses „Durchlaufen“ der Phasen hängt ab vom individuellen Lernstand und vom individuellen Lerntempo. Dabei dominiert in jeder Phase meist eine Strategie deutlich.2 (siehe Tabelle 1: Entwicklung des Schriftspracherwerbs in Phasen)

Im Anfangsunterricht ist das zunächst die alphabetische Strategie (phonetische Phase). Das Verschriften lautgetreuer Wörter mit der Anlauttabelle, das „Heraushören“ der einzelnen Laute und die damit verbundene Förderung der phonologischen Bewusstheit ist grundlegender Ausgangspunkt. (siehe Kap. 1.1)

Dabei soll sich das Sprachgefühl konstruktiv und intuitiv vom Kind selbst ausgehend entwickeln. Eine ständige Instruktion zur Rechtschreibung wirkt wenig motivierend, kann zu Schreibhemmungen führen und somit dem entgegenstehen, was eigentlich das Ziel ist: „rechtschreibkompetente“ Schreiberinnen und Schreiber. Über die Wertschätzung der Gedanken und Ideen beim Schreiben eigener Texte, auch schon im Anfangsunterricht, erfahren die Schülerinnen und Schüler Erfolgserlebnisse und bleiben motiviert, ihr Können weiterzuentwickeln.

So wird zunehmend die orthografische Strategie (phonetisch-orthografische Phase) Bedeutung gewinnen. Denn über die alphabetische Phase hinaus müssen die Kinder von Anfang an lernen, dass unsere Schrift keine reine Lautschrift ist, sondern ein genormtes System mit verabredeten Schreibweisen. Viele Lehrkräfte sprechen in diesem Zusammenhang von der Erwachsenenschrift oder Buchschrift, um sie von der zuerst einmal erwünschten Kinderschrift wertungsfrei abzugrenzen. Motivierendes Ziel ist es dabei, die eigenen Texte in Kinderschrift mit Hilfe verschiedener Strategien und Hilfsmittel so zu überarbeiten, dass sie möglichst fehlerfrei und für andere damit leicht lesbar sind. Auf dem Weg dahin werden die lautgerecht geschriebenen Wörter überformt durch orthografische Muster und durch die Nutzung von orthografischen und morphematischen Strategien.

Dieser Prozess kann beim Schreiben eigener Texte unterstützt werden von der Lehrkraft durch institutionalisierte Überarbeitungsprozesse: Zunächst wird für den Entwurf kein Anspruch an orthografisch korrektes Schreiben formuliert, aber es erfolgt eine orthografische Überarbeitung mit individuellen Schwerpunkten. Dabei muss in dieser Phase nicht alles immer orthografisch korrekt sein. Besonders wichtige Texte werden zur besseren Lesbarkeit für andere überarbeitet, indem die Lehrkraft (oder fortgeschrittene Schülerinnen bzw. Schüler) zunächst die Kinderschrift kennzeichnet und anschließend das Kind die Schreibung mit Unterstützung und unter Anwendung orthografischer und morphematischer Strategien korrigiert. Am Ende müssen diese Texte dann vollständig korrekt sein. Ebenso sollten Texte vollständig korrekt sein, die für verschiedene Übungsformen (Lernwörterlisten bzw. Übungskartei, Abschreibheft, Schleichdiktate etc.) selbst geschrieben werden.

Eine weitere Möglichkeit für die Initiierung der Überarbeitung ergibt sich vom Kind ausgehend. Die Kinder machen im regelmäßigen schreiborientierten Unterricht individuelle Beobachtungen, stellen Vermutungen auf oder sind ungewiss über die Schreibung einzelner Wörter. Die daraus entstehenden individuellen Fragen sollten mit allen Schülerinnen und Schülern thematisiert und mit den Normen der allgemein gültigen Rechtschreibung überprüft werden. Das gelingt zum Beispiel in Form von sogenannten „Rechtschreibgesprächen“. Hier bietet insbesondere der jahrgangsübergreifende Unterricht mit dem breiten Spektrum an Alltagswissen und schulischem Vorwissen großes Potenzial. Schülerinnen und Schüler, deren Entwicklungsstand bereits so weit ist, dass sie die neuen Erkenntnisse an ihren inneren Regelkatalog anknüpfen können, werden schon bei der nächsten Gelegenheit diese in einem neuen Zusammenhang ausprobieren. Andere brauchen weitere Übungen, um die Stufen der Schreibentwicklung zu erklimmen.

Im jahrgangsübergreifenden Unterricht ist grundsätzlich zu beachten, dass die Phasen bzw. Entwicklungsstufen des Schriftspracherwerbs und der Rechtschreibentwicklung nicht eindeutig einer Klassenstufe zugeordnet werden können. Im Anfangsunterricht der jahrgangsübergreifenden Klasse 1/2 umfasst das Leistungsspektrum bis zu drei solcher Phasen der Entwicklung. Für die Struktur eines jahrgangsübergreifenden Deutschunterrichts ergibt sich daraus die Notwendigkeit 

Fazit: Grundlegende Kenntnisse der Lehrkraft über die Entwicklung und die Diagnostik von Kompetenzen in den Bereichen Schreiben und Lesen sind unerlässlich für einen jahrgangsübergreifenden Anfangsunterricht Deutsch. (siehe Tabelle 1: Entwicklung des Schriftspracherwerbs in Phasen und Tabelle 2: Fördermöglichkeiten in den Phasen des Schriftspracherwerbs)

Zum schreiborientierten Unterricht gehören das freie und lautorientierte Schreiben ebenso wie die zunehmende Anwendung orthografischer und morphematischer Strategien zur Überarbeitung eigener Schreibprodukte. Beide Bestandteile werden in angemessenem Verhältnis in konstruktiven Lernprozessen erworben und in instruktiven Sequenzen vermittelt.

Der Einsatz von kompetenzorientierten Lern- und Übungsaufgaben fördert den Entwicklungsprozess: Einerseits bieten diese Aufgaben mit all ihren Differenzierungsmöglichkeiten jedem Kind genügend Entwicklungspotential und andererseits kann die Lehrkraft durch den Einsatz kompetenzorientierter Aufgaben in geöffneten Unterrichtsformaten Freiräume für die gezielte Unterstützung und Beobachtung gewinnen. (Teil I, Grundlagen, Kap. 3.3)

Entwicklung des Schriftspracherwerbs in Phasen3

Tabelle 1: Entwicklung des Schriftspracherwerbs in Phasen (Weidner, 2019)

Fördermöglichkeiten in den Phasen des Schriftspracherwerbs4

Tabelle 2: Fördermöglichkeiten in den Phasen des Schriftspracherwerbs (Weidner, 2019)
1Kroner, Heike; Peschel, Christina: Stufenmodelle der Schriftsprachentwicklung in Beispielen. (Bildungsserver Berlin-Brandenburg: Reader ILeA1.) verfügbar unter:  https://bildungsserver.berlin-brandenburg.de/[…]/4._Stufenmodelle_der_Schriftsprachentwicklung.pdf, Stand vom: 19.01.2021.
2Leßman, Beate: Rechtschreibung im Haus des Lernens. In: Kruse, Norbert; Reichardt, Anke (Hrsg.) (2016): Wie viel Rechtschreibung brauchen Grundschulkinder? – Positionen und Perspektiven zum Rechtschreibunterricht in der Grundschule. Erich Schmidt Verlag, S. 22 f.
3Die Übersicht wurde erstellt von Bianca Weidner auf Basis der Stufenmodell-Darstellungen des LISUM Brandenburg (2004), von Gudrun Spitta (1988) sowie von Renate Valtin (1997), zusammengefasst in: Kroner, Heike; Peschel, Christina: Stufenmodelle der Schriftsprachentwicklung in Beispielen. (Bildungsserver Berlin-Brandenburg: Reader ILeA1.) verfügbar unter: https://bildungsserver.berlin-brandenburg.de/[…]/4._Stufenmodelle_der_Schriftsprachentwicklung.pdf, Stand vom: 19.01.2021.
4Die Übersicht wurde erstellt von Bianca Weidner auf Basis der Stufenmodell-Darstellungen des LISUM Brandenburg (2004), von Gudrun Spitta (1988) sowie von Renate Valtin (1997), zusammengefasst in: Kroner, Heike; Peschel, Christina: Stufenmodelle der Schriftsprachentwicklung in Beispielen. (Bildungsserver Berlin-Brandenburg: Reader ILeA1.) verfügbar unter: https://bildungsserver.berlin-brandenburg.de/[…]/4._Stufenmodelle_der_Schriftsprachentwicklung.pdf, Stand vom: 19.01.2021.