Jahrgangsübergreifender Unterricht an kleinen Grundschulen im ländlichen RaumEin Konzept und Materialien zum Umgang mit Heterogenität

1 Fachdidaktische Einblicke zum Schriftspracherwerb

1.1 Förderung der phonologischen Bewusstheit

Vorschulkinder richten ihre Aufmerksamkeit vor allem auf den Bedeutungsaspekt der Sprache und weniger auf ihre phonologischen Merkmale. So kann es sein, dass ein Vorschulkind auf die Frage: „Welches Wort ist länger, „Salami“ oder „Zug“, mit „Zug“ antwortet. Die Aufmerksamkeit muss nun auf die phonologischen Eigenschaften der Sprache gelenkt werden.

Als phonologische Bewusstheit wird die Fähigkeit bezeichnet, die Aufmerksamkeit auf die formalen Eigenschaften der gesprochenen Sprache zu lenken, wie zum Beispiel auf den Klang der Wörter beim Reimen, auf Wörter als Teile von Sätzen, auf Silben als Teile von Wörtern und letztlich vor allem auf die einzelnen Laute der gesprochenen Wörter. Die phonologische Bewusstheit gilt als die zentrale Fähigkeit zum alphabetischen Zugang und damit zum lautgetreuen Lesen und Schreiben. Sie ist nicht angeboren, sondern muss schon möglichst früh erlernt und geübt werden. Schon im Kindergarten erwerben Kinder dafür Kompetenzen, die später in der Schule notwendig sind. Das zeigt sich zum Beispiel im Erkennen von Reimen oder im Zerlegen von Wörtern in Silben. Kinder müssen Silben unterscheiden können, um später lesen und schreiben zu lernen. Diese Fähigkeit ist eine grundlegende Vorläuferfähigkeit für den Schriftspracherwerb, sie orientiert sich eher an der Oberflächenstruktur der Sprache1.

Die phonologische Bewusstheit im engeren Sinn ist darauf gerichtet, die Struktur der Lautsprache zu erkennen und mit Sprachelementen zu operieren. Hier geht es um Anforderungen wie zum Beispiel das Erkennen von Anlauten und Endlauten oder das Synthetisieren von Lauten: Wo hörst du das M in Maus? Vorn, in der Mitte, oder hinten? Wie heißt das Wort Opa wenn du das a durch ein i ersetzt? Und welches Wort bleibt, wenn du bei Bauer das B weglässt? Diese Fähigkeit im engeren Sinn entsteht als schriftsprach-spezifische Voraussetzung erst im Zusammenhang mit der Einsicht in das Laut/Schrift-Prinzip.

Eine wichtige Phase, in der die Lehrkraft sensibel die Entwicklung dieser Fähigkeit beim einzelnen Kind im Fokus behalten muss, ist der Zeitraum des ersten Schuljahres. In dieser Zeit bildet sich, ausgehend von der phonologischen Bewusstheit, eine erste Rechtschreibstrategie, die alphabetische Strategie heraus. Das Verschriften mit der Anlauttabelle und die damit verbundene Abbildung aller Laute eines Wortes geben den Schülerinnen und Schülern im Anfangsunterricht ein wichtiges Instrument zum eigenständigen Schreiben in die Hand. Ein Teil des Wortschatzes in der Grundschule kann mit Hilfe dieser Strategie richtig geschrieben werden. Für Schülerinnen und Schüler mit einer gering ausgeprägten phonologischen Bewusstheit ist die Aneignung des Schriftspracherwerbs besonders schwer und herausfordernd, denn sie sind meist ohne zusätzliche Fördermaßnahmen nicht in der Lage, den phonologischen Code der Schriftsprache zu entschlüsseln.

Um alle Schülerinnen und Schüler optimal fördern zu können, ist die pädagogische Diagnostik der phonologischen Bewusstheit die grundlegende Voraussetzung, sowohl bereits im Kindergartenalter als auch in den ersten Tagen und Wochen im Anfangsunterricht in der Schule.

Zur Untersuchung der phonologischen Bewusstheit bei Schulbeginn stehen in Deutschland derzeit mehrere überprüfte Verfahren zur Verfügung: zum Beispiel das „Bielefelder Screening“ (BISC)2, BAKO 1 – 43 mit dem Trainingsprogramm PHONIT4, TEPHOBE5 sowie der „Rundgang durch Hörhausen“6.

Diese standardisierten und normierten Verfahren sind in der Regel Einzelverfahren im Umfang von 25 bis 40 Minuten. Sie werden von spezifisch qualifizierten Fachkräften angewendet. Der Rundgang durch Hörhausen wurde für die pädagogische Arbeit der Lehrkräfte entwickelt zum Einsatz bei Kindern in den Klassenstufen 1 und 2 in der Grundschule. Dieses Verfahren kann von den Lehrkräften selbst durchgeführt werden. Auch für dieses Erhebungsverfahren liegen Werte aus wissenschaftlichen Untersuchungen sowohl für den Schulanfang als auch für die Mitte des ersten Schuljahres vor.

Abb.: Rundgang durch Hörhausen7

Mit dem Erhebungsverfahren Ein Rundgang durch Hörhausen machen die Schülerinnen und Schüler einem spielerischen Rundgang durch den Ort Hörhausen. Sie testen in Begleitung der Lehrkraft ihre Fähigkeiten im Silbensegmentieren und -zusammensetzen, in der Phonemanalyse, in der Lautsynthese, im Schreiben erster bekannter Wörter und Wiedererkennen bekannter Buchstaben, im Erkennen von An- und Endlauten und letztendlich im Erkennen von Endreimen. 

Ein Rundgang durch Hörhausen kann damit als detailliertes Instrument zur Feststellung der Entwicklung der phonologischen Bewusstheit eingesetzt werden. Dieses inzwischen zweibändig angelegte Diagnose- und Förderprogramm umfasst das praxiserprobte Diagnoseverfahren sowie Förderaufgaben zur Prävention von Lese-Rechtschreib-Schwächen und Aufgaben zum Training der phonologischen Bewusstheit.

Eine Förderung der phonologischen Bewusstheit sollte neben dem Vorschulbereich grundsätzlich auch im Anfangsunterricht der Grundschule und darüber hinaus zur Unterstützung des Schriftspracherwerbs erfolgen. Dies erscheint vor allem dann sinnvoll, wenn im Vorschulalter kein Training durchgeführt wurde oder wenn Defizite in der phonologischen Bewusstheit festgestellt werden. Die phonologische Bewusstheit sollte dabei prinzipiell spielerisch und ohne Leistungsdruck entwickelt werden, insbesondere mit den Schülerinnen und Schülern, die im Anfangsunterricht mit dem Lesen und Schreiben Schwierigkeiten haben.

Geeignet zur Vorbereitung auf den Erwerb der Schriftsprache ist auch das Würzburger Trainingsprogramm8. Das Programm besteht aus der Anleitung sowie Arbeitsmaterialien für ein Gruppentraining und wurde ergänzt durch einen interaktiven multimedialen Teil für die individuelle Förderung.

Darüber hinaus stehen zahlreiche Materialien verschiedener Institutionen zur Verfügung, die Ideen für die Einbindung von Trainingsaufgaben im Unterricht geben oder die direkt im Unterricht eingesetzt werden können. Eine beispielhafte Sammlung grundlegender Übungen zur Förderung der phonologischen Bewusstheit steht im Anhang zur Verfügung. (Teil III, Materialien Deutschunterricht, Übungen zur Förderung phonologischen Bewusstheit)

Fazit: Unabhängig von der Auswahl eines bestimmten Diagnoseverfahrens oder Förderprogramms ist es generell von hoher Bedeutung, Übungen zur phonologischen Bewusstheit zum festen Bestandteil des Anfangsunterrichts und darüber hinaus werden zu lassen, denn diese Fähigkeit ist trainierbar. Das bedeutet auch, dass Kinder mit einer gering ausgeprägten phonologischen Bewusstheit diese Fähigkeit bei entsprechender Förderung entwickeln und beim Schriftspracherwerb aufholen können. Vor allem der jahrgangsübergreifende Unterricht bietet hier im Rahmen der verschiedenen Organisationsformen den Raum und die Zeit für differenzierte Übungsformate.

1Vgl. Stangl, Werner (2021). Stichwort: „phonologische Bewusstheit“. Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik. verfügbar unter: https://lexikon.stangl.eu/7429/phonologische-bewusstheit/, Stand vom: 19.01.2021.
2Jansen, Heiner; Mannhaupt, Gerd; Marx, Harald; Skowronek, Helmut (2002): Bielefelder Screening zur Früherkennung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten (BISC). 2. überarbeitete Auflage, Hogrefe Verlag.
3Stock, Claudia; Marx, Peter; Schneider, Wolfgang (2017): BAKO 1 – 4. Basiskompetenzen für Lese-Rechtschreibleistungen. 2. ergänzte und aktualisierte Auflage, Hogrefe Verlag.
4Stock, Claudia; Schneider, Wolfgang (2011): PHONIT: Ein Trainingsprogramm zur Verbesserung der phonologischen Bewusstheit und Rechtschreibleistung im Grundschulalter. Hogrefe Verlag.
5Mayer, Andreas (2020): Test zur Erfassung der phonologischen Bewusstheit und der Benennungsgeschwindigkeit (TEPHOBE). Ernst Reinhardt Verlag.
6Martschinke, Sabine; Kirschhock, Eva-Maria; Frank, Angela (2001): Nürnberger Erhebungsverfahren zur phonologischen Bewusstheit. Ein Rundgang durch Hörhausen. Donauwörth, Auer Verlag.
7Nach: Martschinke, Sabine; Kirschhock, Eva-Maria; Frank, Angela (2016): Der Rundgang durch Hörhausen – Band 1 – Erhebungsverfahren zur phonologischen Bewusstheit. Auer Verlag. Foto: Weidner, Bianca (2019).
8Küspert, Petra; Schneider, Wolfgang (2018): Hören, lauschen, lernen – Sprachspiele für Kinder im Vorschulalter. Würzburger Trainingsprogramm zur Vorbereitung auf den Erwerb der Schriftsprache. Vandenhoeck & Ruprecht, 7. komplett überarbeiteten Auflage.