Theaterprojekt

Wo, bitte, geht es nach Galizien?


Multinationales Theaterprojekt des Ev. Kreuzgymnasiums Dresden vom 18.-25.06.2006

Galizien? Das waren strafversetzte Beamte der alten Donaumonarchie, eine Gedichtzeile von Paul Celan, Krieg, Massenmord, Armut, Energiekrise, orange Fahnen auf dem Lemberger Svobodny Prospekt, Wodka, Schnaps, viel Schnaps... Nun waren wir also da, im heutigen Galizien, im wirklichen Lviv, das einmal Lemberg, früher einmal Lwow geheißen hatte, nach unendlich langer Busfahrt durch Polen, stundenlangem Warten an der Grenze, tief in der Nacht. Hier, im Westen der alten Sowjet-Union, wollten zehn Schüler des Ev. Kreuzgymnasiums Dresden also an einem Theaterprojekt teilnehmen, Theater spielen mit 30 anderen Jugendlichen aus Polen (Wroclaw), der Ukraine (Lviv) sowie Moldawien (bei Chisinau). Dass nur wenige aus "Haupt-Europa" hierher kommen, merkten wir schnell: Verständigungsschwierigkeiten, (post-)sozialistische Rituale, Unbequemlichkeiten, ein einziger Postkartenverkäufer in der 800 000-Einwohner-Stadt Lviv.

Gut, dass alles sehr professionell organisiert war von unserer polnischen Chefkoordinatorin , Frau M. Stronska-Zaremba, durch deren Kompetenz und Energie bereits unsere letztjährige Theaterfahrt nach Wroclaw (30 unserer Schüler zeigten dort Theaterstücke polnischer Autoren: "Yvonne, Prinzessin von Burgund" von W. Gombrowicz sowie "Tango" von S. Mrozek) ein großes und erfolgreiches Ereignis geworden war.

Gleich am ersten Tag teilten sich die 40 Jugendlichen in multinationale Gruppen auf und ordneten sich jeweils einem Betreuerpaar aus D/PL/UA/Moldawien zu. Tagtäglich improvisierten und probten wir nun zum Thema "750 Jahre Lviv", ließen uns von massiven sprachlichen wie interkulturellen Verständigungsschwierigkeiten nicht beirren, stellten Requisiten her oder schleppten sie von einem Ort zum anderen. Sieben große Koffer aus dem Fundus des Ev. Kreuzgymnasiums waren dabei, sieben Koffer, die zu Reiserequisiten der zahllosen Völker wurden, die im Lemberg,Lwow, Lviv gelebt, gelitten, gehandelt, sich geliebt, gehasst und ausgerottet haben. Zum Schluss erklang bei der Vorführung der deutschen Gruppe die Flöte mit einem Erlösungs-und Versöhnungschoral von Bach, wurde im Chor gesungen "Kein schöner Land in dieser Zeit".... Wie fremd mag sich dabei wohl so mancher Moldawier gefühlt haben?

Wir erlebten das Fremde auch, die Andersartigkeit der Theaterkultur (an drei Abenden stellten die nationalen Gruppe daheim erarbeitete Stücke vor), die kyrillische, für uns unentzifferbare Schrift, die Tatsache der Wasserknappheit (es gab täglich nur c.a. 8-10 Stunden Wasser, kaum jemals wirklich warm), die ukrainischen Frauenschönheiten auf hochhackigen Stilettos, die noch weltverlorene, pastellfarbene Schönheit der Stadt Lemberg mit ihren griechisch-katholischen und armenischen Kirchen...

Und dann auch wieder Vertrautes, Wohliges: "die schönste Oper nach der in Wien", die leckeren Kirschen der Bauersfrauen auf den zahlreichen Märkten, die gemeinsame Musik, die gemeinsame Begeisterung für das Theaterspiel, die Freude an der gemeinsamen Abschlussvorstellung, die Herzlichkeit der Menschen, Hala, die unermüdliche Übersetzerin, Sascha, der charmante Begleiter, beide erfahrene Demonstranten während der orangen Revolution auf den Plätzen von Lviv.

Nach sechs sehr intensiven Arbeits- und Begegnungstagen (jeder Tag wurde mit einem gemeinsamen, fast non-verbalen Warming-up begonnen), so manchen touristischen Eindrücken (polnischer Friedhof, so groß wie der Vatikan, Stadtführung durch die bezaubernde Altstadt Lembergs, Museum für religiöse Kunst und Kultur), anstrengenden "Zu-Fuß-Touren" von Hotel zu Kulturzentrum zur Mensa zum Ort der Abschlussvorstellung, Begegnungen mit Menschen aus Weißrussland, von der Krim, Interviews für das Lemberger Frühstücksfernsehen, für Radio Sewastopol kulminierte unser gemeinsames Tun in einem einstündigen "finale furioso" im Museum für Architektur in Lviv: das eher melancholische Kofferstück mit kleinem Schnaps-Rap der deutschen Gruppe , die Liebesgeschichte mit elfischen Wesen der Moldawier, der Auftritt der ukrainischen Waldgeister sowie das fulminante Figurenspiel der polnischen Truppe, die - begleitet von Didgeridoo-, Percussion- und Akkordeonklängen - ein ganzes Schlachtfeld aus einer alten Lemberger Sage wiederbelebte. Viele Dankesworte und Geschenke von zahllosen Direktoren und Präsidenten am Schluss, dann hinein in den Bus. Nach 22stündiger Fahrt (davon fünf Stunden schikanöser Grenzaufenthalt) wieder zu Hause in Dresden. Gut, wieder eine warme Dusche zu haben, aber noch besser: in Lemberg gewesen zu sein!

Möge es uns gelingen, nächstes Jahr in Dresden ähnlich gute Gastgeber abzugeben.

Ulrike Christof
Annett Röder